Viele Dinge kann man quantifiziert genau nachlesen, findet man mit einem einzigen Suchbegriff und dank Google innerhalb von Sekunden. Das sind meist auch die Dinge, die oft wahnsinnig irrelevant sind für jene, die vor Ort leben. Wie viele Einwohner hatte meine Stadt gleich nochmal? Andere Dinge kann man schon nach wenigen Tagen erspüren, wenn man sich vor Ort aufhält. Diese sagen meist wesentlich mehr über ein Land aus, als dies harte Fakten können. Sie vermitteln einem ein Verständnis, das man sich nicht anlesen kann. Und dann gibt es die dritte Kategorie. Jene Einzelheiten, die man selbst erst nach Wochen und Monaten herausfindet, die man bereits im Land gelebt hat. Genau dieses Wissen möchte ich hier mit euch teilen, denn es ist ein kleiner aber sehr aussagekräftiger Einblick in die Skurrilitäten, die eine Gesellschaft gerade ausmachen.
1. Kanada hat absoluten Vintagecharakter

Nein, ich möchte hier nicht von diesen dekotechnisch sehr netten, aber atmosphärisch meist enttäuschenden Läden sprechen, die Dinge verkaufen, die alt aussehen, es aber im Zweifelsfall eher nicht sind. Das kann man durchaus cool finden, ist aber ein Trend in der gesamten westlichen Welt. Kanada, das man so gerne mit den kreditkartenfokusierten Staaten in einen Topf wirft scheint sich manchen technischen Neuerungen einfach verweigert zu haben oder zumindest parallel noch die alte Form behalten zu haben. Nicht aus Rückständigkeit, sondern eher aus Liebe und Sentimentalität. Hier scheinen noch flächendeckend Telefonzellen überlebt zu haben die auch tatsächlich benutzt werden! Man kann sie mit Kreditkarte zahlen, sie lassen Gespräche ins Ausland zu, auch kleine Orte haben sie meist. Und am allerwichtigsten versprühen sie noch den Charme einer Zeit und eines Kommunikationsmittels, das in der restlichen Welt entweder untergegangen ist oder wie etwa in London zum bloßen Relikt degradiert wurde.
Ich habe nie so ganz durchdrungen, warum ich wann was mit welchem Zahlungsmittel zahlen kann. Kreditkarten werden in vielen Fällen nicht akzeptiert. Debitkarten fast immer. Der Bus zum Flughafen nimmt nur Münzen und gibt kein Rückgeld. Meine Miete habe ich in bar bezahlt. Meine Krankenversicherung mit einem sehr altertümlich anmutenden Check, den ich erst bei der nächsten Poststelle ausstellen lassen musste. Dafür war eine Konteröffnung um Äonen einfacher und freundlicher als in Europa. Diese Kombination aus Fortschrittsdenken und Festhalten an Bewährtem funktioniert, auch wenn sie für Außenstehende ein wenig undurchschaubar ist.
Außerdem ist in Kanada die SMS noch eine große Sache. Und Whatsapp eine Randerscheinung. Gleichzeitig werden Apps eingesetzt, um gegen gesellschaftliche Probleme wie Vereinsamung oder Sucht vorzugehen. Studentenwohnheime haben noch Festnetztelefone in den Zimmern – und diese werden auch benutzt! Wer also ein Faible für Technik und Geschichte hat ist in dem Land super aufgehoben.
2. Musiker fahren kostenlos mit dem Zug
Kanada mag seine Musiker (die der Rest der Welt zumeist für US-Amerikaner hält). Von der kanadischen Bahngesellschaft Via-Rail bekommen sie ein ganz besonderes Privileg eingeräumt: Wer bereit ist, die Passagiere auf einer der langen Strecken, die man als Europäer nur zu gerne unterschätzt, zu unterhalten, darf kostenlos fahren. Wie die Qualität dieser Unterhaltung gesichert wird und ob der Musiker dem Schaffner zuerst einmal eine Kostprobe geben muss, kann ich allerdings nicht beantworten.
3. Lokalpatriotismus und Pluralismus
Pluralismus ist die offizielle politische Agenda des Landes, eine klare Abgrenzung zu den USA und ihrer „Melting Pot“ Philosophie. Die Kanadier haben sich sogar einen entsprechenden Feiertag gegeben, am 27. Juni feiern sie den Tag des Multikulturalismus. Vielfältigkeit in kultureller und ethnischer Hinsicht wird oft als das kanadische Kapital angesehen, man ist ganz besonders stolz auf seine gelungene Einwanderungspolitik. In einem dezentralisierten Einwanderungsland ist kulturelle Differenz ist ein Recht, jeder Bürger hat das Recht, seine zu Pflegen und somit seine Identität zu wahren. Gleichwertigkeit und Toleranz sind die modernen kanadischen Maxime.
Gleichzeitig lieben die Kanadier ungehemmt ihr Land, aber noch viel viel mehr ihre eigene Region. Im Gegensatz zu den USA fehlt der Gründungsmythos ebenso wie die gemeinsame Geschichte. Osten und Westen unterscheiden sich erheblich voneinander. Gleichzeitig ist die Landschaft, in der sich die großen Siedlungsräume befinden, wesentlich einheitlicher als in den USA, was die Menschen wieder verbindet und annähert. Es gibt kaum Nationen, die derartig dezentral verwaltet werden, in denen die einzelnen Provinzen derartige souveräne Akteure sind. Zudem verbinden die Kanadier eine sympathische Portion von Individualismus mit einem gesunden Maß an Gemeinschaftssinn. Damit sind Schlagwörter wie „allgemeine Krankenversicherung“ hier kein vergleichbares Schreckgespenst wie in den USA, sondern politische Realität.
4. Sprachlich getrennte Welten und die Angst der Québecois
Für uns als Europäer, die wir in einem flächentechnisch kleinen Land leben (aus kanadischer Perspektive gesehen), welches von noch kleineren Ländern umgeben ist, die alle andere Sprache sprechen, wirkt die fundamentale Angst der französischsprachigen Kanadier vor einem Verlust der Sprache und einem damit einhergehend kulturellen Verfall zunächst unnachvollziehbar. Doch muss man auch sehen, dass sie eine kleine Insel auf einem riesigen, anglophonen Gebiet sind. In Kanada, aber ganz besonders in einer Stadt wie Montreal, wird alles nach Sprache getrennt. Schulen. Universitäten. Stadtviertel. Politische Ränkespiele. Es geht kaum darum, welche Religion eine Person hat, welchen ethnischen Hintergrund, aber welche Sprache man spricht, Englisch oder Französisch ist mit einer Festlegung in eines der beiden Systeme verbunden.
Québec hat innerhalb Kanadas eine enorme Sonderrolle, ist europäischer, aber auch in einigen Punkten konservativer und vor allem nationalistischer als die anderen Provinzen. Genießt Vorrechte aber hat auch einige wirtschaftliche Probleme, da die Drohung der Selbstständigkeit den Wirtschaftsstandort schwächt. Man kann Québec in gewisser Weise auch als Barometer für die Zerbrechlichkeit des föderalistischen Kanadas ansehen. Und man muss beide sprachlichen Welten gesehen haben, um wirklich zu verstehen, wie dieses Land tickt. Genau das macht sowohl Montreal, aber auch Québec Ville zu absolut notwendigen Reisezielen, wenn man schon nicht dort studiert und einen noch tieferen Einblick in die beiden Charakterzüge Kanadas bekommen kann.
5. Wie Sport zelebriert wird
Man kann es nicht oft genug wiederholen, Kanada ist nicht die Vereinigten Staaten. Was natürlich im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass die beiden Länder sich nicht gegenseitig beeinflussen würden und keine Parallelen bestehen würden. Trotzdem gibt es zwei Sportarten, die in Kanada einen ganz besonderen Stellenwert haben: Eishockey und Lacrosse. Kanada hat ganz klar die Attitüde, das Mutterland des Eishockeys zu sein. Durchaus zurecht, schließlich wurden hier auch erstmals die Regeln dieses Sportes festgelegt, keine andere Sportart bringt das Blut der Bürger derart zum kochen.
Aber Eishockey ist mehr als ein bloßes Spiel, es ist auch eine Plattform der Gesellschaft sich auszudrücken. Ideale wie Gleichberechtigung und Fairness sind auch im sportlichen Kontext Gesprächsthema. Halbzeitpausen werden genutzt, um Werbung für Blindenhockey zu machen und damit Aufmerksamkeit auf eine Randgruppe zu legen. Als im April 2018 das Junioren-Eishockeyteam der Humboldt Broncos in Saskatchewan auf dem Weg zu einem Spiel gegen die Hawks verunglückte und 14 Menschen starben, ging eine Welle der Anteilnahme durch das ganze Land. Um das Mitgefühl sichtbar zu machen stellten Bürger vor tausende Haustären und Firmeneingange Eishockeyschläger und Kerzen.
Die Fankultur ist kollegialer, weniger von rabiaten Auseinandersetzungen geprägt als im Fußball. Während des Spiels gibt es immer wieder Pausen, Animateure trommeln, alle möglichen Sachen werden verlost, Publikum winkt auf Kommando in die Kamera. Wenn die Spieler einlaufen gleicht dies der Anfangszeremonie eines Boxkampfes, was das Pathos anbelangt. Wer die Möglichkeit hat, sich ein Spiel live anzusehen, sollte diese nicht ausschlagen!
Kanadischer Universitätssport – Faszination Lacrosse
Lacrosse ist ebenfalls zutiefst kanadisch und eine faszinierende Sportart. Über Lacrosse kann man ganze Romane schreiben. Die Kurzfassung: Mit einem kescherähnlichen Schläger muss ein Hartgummiball in das gegnerische Tor bugsiert werden. Dabei spielen Frauen und Männer nach sehr unterschiedlichen Regeln. Bei den Frauen ist der Schläger- und Körperkontakt viel stärker eingeschränkt, damit muss weniger Schutzkleidung getragen werden. Das Spiel war ursprünglich von der indigenen Bevölkerung der Ostküste und der Großen Seen als „kleiner Bruder des Krieges“ bezeichnet worden. Sie weihten es dem Kriegsgott. Teilweise ging dies so weit, dass mehr als hundert Spieler auf dem Feld standen und Streitigkeiten auf diese Weise austrugen, um Krieg zu vermeiden. Zusätzlich wurde das Spiel auch zur Kriegsvorbereitung und zum Training eingesetzt. Es kam immer wieder zu Todesfällen.
Überlebt hat die heute stark modifizierte und stärker reglementierte Sportart wohl durch einen Zufall: 1634 sah der französische Jesuitenmissionar Jean de Brébeuf das Treiben. Der Schläger erinnerte ihn an einen Bischofsstab (daher der heutige Name), Verbände und Verbreitung über Kanada hinaus entwickelte sich erst etwa 200 Jahre später. Heute ist die Sportart fest an den Universitäten verankert. Man darf Kanada praktisch nicht verlassen, ohne ein Spiel gesehen zu haben!
6. Sichtbarkeit von Religion
Während in Deutschland noch immer die leidige Islamdebatte tobt sind es in Kanada viele verschiedene religiöse Kopfbedeckungen, die einem in der Metro über den Weg laufen können. Kippa, Hidjab und Dastar sind im Stadtbild präsent und gehören zum normalen Alltagsgeschehen. Einer Umfrage aus dem Jahr 2007 zu Folge fühlen sich die Muslime in Kanada besser integriert als in Europa [1]. Die größte Auslandsgemeinschaft der Sikh befindet sich in Kanada, besonders in Toronto prägen sie das Stadtbild mit ihrer farbenprächtigen Dastar.
Trotz der auch hier heftig geführten Burka-Diskussion wird recht schnell klar, dass kanadische Integrationspolitik stärker auf Erhalt und Nutzung der ethnischen und religiösen Besonderheiten hinarbeitet als auf Anpassung. Dieser Wertewandel vollzog sich vor allem in den 1960 Jahren, davor hatte die Schulpolitik auf Segregation und Vermittlung der europäischen Kultur basiert. Als Student hat man hierzu besonders die Möglichkeit, da viele Studentenclubs euch religiös geprägt sind. Es ist eine wahnsinnige Bereicherung, sich mit Mitgliedern unterschiedlicher Religionen zu unterhalten. Zudem ist es unheimlich lehrreich (und immer ein Garant für leckeres Essen), an religiösen Festen anderer Kulturen teilzunehmen.
7. Universitätspatriotismus
In meinen ersten Wochen an einer kanadischen Uni war ich vom kulturellen, sportlichen und kreativen Angebot meines neuen Lernortes überfordert. Es gab sogar eine eigens kreierte App, die alle Veranstaltungen der Orientierungsphase systematisch erfasste. Und mich immer wieder daran erinnerte, was ich gerade verpasste, wenn ich mich einmal mehr heillos auf dem gewaltigen Campus verlaufen hatte. Die Campusatmosphäre ist allgemein äußerst lebendig. Gleichzeitig fehlt leider die Mensakultur, aber man kann auf zahlreiche Cafés zurückgreifen, die auch Sandwiches und süße Stückchen anbieten.
Die zahlreichen Clubs und Societies prägen den Campusalltag ungemein. Hier ist Zugehörigkeit und Angagement weit entscheidender als der Zusammenhalt zwischen den Kommolitonen eines Jahrgangs und Fachs. Hinzu kommen das breite Sportangebot und die Partys der Student Union. Die Freizeitgestaltung findet an der Uni statt, man jubelt für die meist sehr hochqualitativen Unisporteams, deren Liga oft auch eine hohe Anerkennung genießt. Allgemein verbringen Studenten weit mehr Zeit auf dem Campus – und haben eher ein Faible für den unerlässlichen Souvenirshop jeder Uni.
[1] In Depth, Islam: Canada’s Muslims, an international comparison, in: CBC News, 13. Februar 2007